Der Rothirsch: ein König im Exil
Deutschland schafft die Monarchie ab. Diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen, wenn man aktuelle Meldungen über den Rothirsch, den „König der Wälder“, hört. Wissenschaftler in Hessen fanden heraus, dass der Inzuchtgrad vieler Teilpopulationen so hoch ist, dass bereits Missbildungen und Totgeburten auftreten. Es wurden Tiere mit verkürzten Unterkiefern entdeckt, die ihre Nahrung nicht mehr richtig aufnehmen konnten. Nach den Erkenntnissen des Genetikers und Wildbiologen Prof. Dr. Dr. Gerald Reiner von der Justus-Liebig-Universität in Gießen ist die Entwicklung so dramatisch, dass ganze Populationen schon in zehn Jahren nicht mehr lebensfähig sind.
Vorkommen in Deutschland
Der Rothirsch ist das größte noch freilebende Säugetier Deutschlands. Die ganze Sippe, also auch Hirschkühe und Kälber werden als Rotwild bezeichnet. Man schätzt, dass es rund 200.000 von ihnen in der Bundesrepublik gibt. Sie dürfen in Deutschland aber nicht leben, wo sie wollen. In den 1950er-Jahren wurden in verschiedenen Bundesländern sogenannte Rotwildgebiete ausgewiesen. Diese sind oft sehr klein und punktuell im Land verteilt. In Baden-Württemberg zum Beispiel darf Rotwild nur auf 4% der Landesfläche leben, in Bayern auf 14%.
Isolierte Rotwildgebiete
Auch heute existieren diese Gebiete noch in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Thüringen. Bei den Rotwildgebieten handelt es sich oft um isolierte Populationen, zwischen denen das Rotwild nicht hin- und herwechseln kann.
Aus zwei Gründen:
- Jedes Tier, das diese „Insel“ verlassen will, muss laut gesetzlicher Verordnung erschossen werden.
- Verkehrsachsen, wie Autobahnen und ICE-Trassen, sind unüberwindbare Grenzen
Ungeeignete Lebensräume
Dazu kommt noch, dass, nach Einschätzung von Dr. phil. Helmuth Wölfel vom Institut für Forstzoologie und Waldschutz an der Universität Göttingen, die zugewiesenen Areale keine Inseln der Glückseligkeit seien. Ganz im Gegenteil, sie würden nicht einmal das Prädikat „Rotwildlebensraum“ verdienen. Obwohl manche Mittelgebirge und Teile des Hochgebirges saisonal für Rothirsche durchaus attraktive Regionen darstellten, seien sie ganzjährig größtenteils nicht als Habitat geeignet. Die Tiere würden diese Regionen, wenn sie es denn könnten bzw. wenn man sie ließe, im Spätherbst verlassen und, wenn überhaupt, erst im Sommer wiederkehren.
Wintergatter als Notlösung
So wechselte das Rotwild früher im Winter aus den Bergregionen hinab ins Tal, um dort nach Futter zu suchen. Doch hier hat sich zwischenzeitlich der Mensch breitgemacht. Weil es in den Hochlagen zur kalten Jahreszeit kaum etwas zu fressen gibt, beginnt das Rotwild in seiner Not, die Rinde von den Bäumen abzuschälen. Um diese Waldschäden zu verhindern, werden im Alpenraum und im Bayerischen Wald große Teile der Rotwildbestände von November bis April in sogenannte Wintergatter gelockt und dort gefüttert.
Das Wandern ist der Hirsche Lust
Noch vor 70 Jahren – also noch vor Ausweisung der Rotwildgebiete, vor dem Bau unzähliger Verkehrsachsen und vor der Zersiedelung der Landschaft – konnten Rothirsche auf den sogenannten Fernwechseln hunderte von Kilometern weitgehend quer durch Deutschland wandern. Gerade junge Nachwuchshirsche suchten sich auf diesem Wege ihr eigenes Rudel, um dort irgendwann als Platzhirsch eigene, frische Gene einzubringen. Die Durchmischung des Genpools war perfekt organisiert. Heute sind viele Rotwildgebiete weitgehend voneinander abgeschnitten.
Grünbrücken als Verbindungswege
Mit Grünbrücken über Autobahnen versucht man seit einigen Jahren die Verbindung wiederherzustellen. Leider gibt es in Deutschland erst um die 100 Stück davon. Bei Kosten von bis zu 4 Millionen Euro pro Brücke ist der Bund hier etwas zurückhaltend. Der Deutsche Jagdverband (DJV) fordert zehn neue Brücken pro Jahr, um dem Rotwild zu helfen, von denen aber auch Luchs und Wildkatze profitieren. Immerhin werden bei neuen Straßenbauvorhaben solche Grünbrücken heutzutage gleich mit eingeplant.
Erhaltung gesunder Wildbestände ist unsere Pflicht
Die Erhaltung und Förderung gesunder Wildbestände ist eine zentrale Vorgabe des Bundesjagdgesetzes und des Naturschutzgesetzes. Deshalb sehen die Deutsche Wildtier Stiftung und der Deutschen Jagdverband (DJV) im Beharren auf den Rotwildgebieten der 1950er-Jahre einen Widerspruch zum Gesetzestext, ja sogar zum Grundgesetz. Sie kritisieren die naturfremde Abschottung der Tiere durch die Behörden als einen Hauptgrund für deren genetische Verarmung. Die Gesetzeslage greife in einen Urinstinkt des Rotwildes ein – der Wanderung der Hirsche.
Der Hirsch als Holzschädling
Warum beharren nun die Regierungen vieler Bundesländer auf die Beibehaltung der Rotwildgebiete? Grund ist die Forstwirtschaft. Rotwild kann im Wald hohe Schäden anrichten, indem es aus Hunger die Rinde von Bäumen abschält. Das führt über kurz oder lang zum Absterben der Bäume. Dabei trifft die Hirsche eigentlich gar keine Schuld: Wenn es nach ihnen ginge, würden sie gar nicht im Wald leben, sondern draußen auf saftigen Wiesen und weiten Graslandschaften, nur mit ein paar Büschen dazwischen. Hier würden sie mit ihrem Geweih genauso wenig anecken wie mit ihrer Anwesenheit. Doch leider sind diese Flächen schon besetzt: Entweder durch Landwirtschaft oder Wohnhäuser. Bleibt also nur der Wald als Rückzugsgebiet. Und von hier trauen sich die scheuen Tiere nur nachts ins Freie.
Petition „Freiheit im Ländle“
Mit der Petition „Freiheit im Ländle“ versuchte die Deutsche Wildtier Stiftung 2019 die anstehende Verlängerung der Rotwildgebiete in Baden-Württemberg zu verhindern. Leider erfolglos: Trotz rund 42.000 Unterstützern entschied das Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz, die Gebiete von 1958 vorerst bis zum Jahr 2027 unverändert beizubehalten. Es werden dem Hirsch also weiterhin nur 4% der Landesfläche als Lebensraum zugebilligt – und das in einem Bundesland, dessen Großes Landeswappen mitunter einen Rothirsch zeigt.
Rotwildmanagement als Lösung
Die Entscheidung des Ministeriums kritisiert die Deutsche Wildtier Stiftung in aller Deutlichkeit, denn „durch den Nahrungsbedarf ausgelösten Fraßeinwirkungen des Rotwildes in der Feldflur und im Wald sind kein hinreichendes Argument, diese Tierart nur in winzigen „Reservaten“ zu dulden und sie außerhalb vollständig abzuschießen. Durch ein umfassendes Management unter Einbindung aller relevanten Akteure lassen sich Schäden in der Land- und Forstwirtschaft reduzieren, u.a. durch veränderte Jagdmethoden und das Schaffen von Äsungsflächen.“
Dem König der Wälder unwürdig
Es ist schon seltsam, dass ein Zusammenleben zwischen Hirsch und Mensch in den südlichen Bundesländern einfach nicht funktionieren will. Ist es dem König der Wälder würdig, zum Inzest gezwungen zu werden und dadurch genetisch zu degenerieren? Und wenn die jungen Prinzen die Enklave verlassen möchten, um ihre „Hörner“ abzustoßen, ereilt sie die behördliche Kugel?
Ich finde es eine Schande, dass wir Menschen uns anmaßen, Wildtieren vorzuschreiben, wo sie leben dürfen und wo nicht. Unsere Aufgabe sollte es sein, intelligente Konzepte zu entwickeln, die nicht das “Ob” in Frage stellen, sondern das “Wie” beantworten.
Hier findest du einen interessanten Filmbeitrag über die Probleme des Rothirschs am Beispiel Hessen. Wenn du dich etwas intensiver mit dem Thema beschäftigen möchtest, empfehle ich dir aus der DJV-Online-Vortragsreihe „Wildtiere und Mensch“ die Folge Rotwild in der Inzuchtfalle? und die Website Rothirsch.org der Deutschen Wildtier Stiftung.
P.S. Vielen Dank an meinen Jagdfreund Frank für die schönen Bilder!