Rehkitze vor dem Mähtod retten
In meinem Revier gibt es kaum noch Wiesen. Auf den meisten Flächen werden zwischenzeitlich Mais, Raps, Weizen oder Zuckerrüben angebaut. Früher waren die Wiesen wichtig, um Viehfutter zu erzeugen. Doch heute hat im Ort fast kein Bauer mehr Rinder oder Pferde im Stall. Statt lebenden Tieren steht dort inzwischen meist ein Maschinen-Fuhrpark. Doch so schön Wiesen sind, so gefährlich ist die erste Mahd im Mai und Juni. Denn im hohen Gras können Rehkitze liegen.
Der Ort im hohen Gras erscheint der Mutter sicher, um ihr Junges zu verstecken. Sie kommt nur gelegentlich zum Säugen vorbei, um keine Duftspur zum Nachwuchs zu legen. Zum Schutz vor Fressfeinden, wie dem Fuchs, hat sich diese Strategie bewährt, weil die Kitze unter den überhängenden Grashalmen nur schwer zu finden sind, zumal sie kaum Geruch abgeben. Doch gegen scharfe Mähwerke nützt diese Taktik leider nichts. Hunderte von grausam zerstückelten Bambis sind jedes Jahr die traurige Bilanz auf Deutschlands Wiesen.
Aufgabe ist also, die kleinen Kitze vor der Mahd zu finden und aus der Fläche zu tragen. Das Kitz wird dann irgendwo geschützt neben der zu mähenden Wiese abgelegt. Wenn Mutti das nächste mal zum Säugen vorbeikommt, wird sie zunächst schockiert sein, weil die Wiese plötzlich weg ist und sie Angst bekommt, dass ihrem Kitz etwas passiert ist. Deshalb fiept die Geiß, um Kontakt zu ihrem Jungen aufzunehmen. Das Kitz antwortet mit seinem hohen, leisen Fiep und so finden beide wieder zusammen. Das Kitz darf allerdings beim Wiedersehen nicht nach Mensch riechen, sonst wird es von der Geiß nicht mehr angenommen. Deshalb muss der Jäger oder Landwirt Gummihandschuhe tragen oder zumindest Grasbüschel beim Forttragen verwenden.
In meinem Jagdrevier gibt es nur noch einen Bauern mit Wiesen, den Manfred – und Manfred ist glücklicherweise Tierfreund. Gestern rief er mich an, dass „der Dominik“ für ihn am nächsten Tag um 11 Uhr seine Wiese am „Geißbrunnen“ mäht. Zeit genug für mich, die Fläche morgens mit meinem Weimaraner Ferdinand abzusuchen. Die Wiese liegt in einem Waldeinschnitt – die Wahrscheinlichkeit, dass dort Kitze liegen erschien mir also sehr hoch. Gleich beim Eintreffen an der Wiese sprang auch schon ein Reh ab, was meine Befürchtung weiter verstärkte.
Beim Kontrollieren der Fläche ging ich so vor, dass ich zunächst eine Quersuche mit dem Hund machte. Dabei achtete ich auf Gegenwind, so dass uns der Geruch von allem vor uns liegendem zugetragen wurde. Ferdinand lief also großräumig vor mir hin und her, und kontrollierte mit hoher Nase, ob er auf der Fläche etwas außergewöhnliches in die Riechzellen bekam. Ich selbst achtete auf den Hund, ob er mir einen Fund anzeigte, und suchte außerdem selbst im hohen Gras nach den klein zusammengerollten Kitzen. Unterstützt wurde ich zusätzlich von meiner Frau, denn vier Augen sehen schließlich mehr als zwei.
Alternativ zur Suche mit dem Hund können am Vorabend auch Wildscheuchen auf der betreffenden Fläche aufgestellt werden. Die Hoffnung ist dann, dass die Rehgeiß nachts ihre meist zwei Kitze aus der „unsicheren“ Fläche herausführt. Leider funktioniert das nicht immer.
Wir waren gerade das erste mal über die Fläche gegangen, als Dominik statt um 11 Uhr schon um 10.30 Uhr mit seinem Schlepper ankam. Mit dem Mähwerk-Anbau vorne und hinten, sah die Maschine geradezu respekteinflößend aus. Mit dem PS-Monster wäre es für Dominik ein leichtes, mit ordentlich Tempo über die Fläche zu fegen und pünktlich zum Mittagessen wieder zuhause zu sein. Ich konnte den jungen Landwirt aber überzeugen, dass das Essen nur halb so gut schmeckt, wenn man ein zerstückeltes Kitz auf dem Gewissen hat. Also fuhr er im Schritttempo, so dass ich mit Ferdinand vor ihm herlaufen konnte, um noch einmal kurz vor den scharfen Messern zu kontrollieren, dass sich auch ja kein Rehkitz auf den Boden drückte.
Nach eineinhalb Stunden hatten wir es geschafft, der Schweiß lief bei fast 30 °C in Strömen und die Grassamen klebten am ganzen Körper. Aber wir hatten Glück, und es war kein Kitz auf der Fläche. „Zum Glück“ deshalb, weil man selbst bei einem gefundenen Kitz nie sicher sein kann, ob es wirklich von der Geiß wiedergefunden wird oder das schutzlose Knäuel nicht doch vorher von einem Fuchs oder Hund entdeckt wird.
An dieser Stelle gilt mein Dank Manfred und seiner Frau, dass sie mir rechtzeitig Bescheid gegeben haben und Danke an den Schlepper-Fahrer Dominik, dass er sich beim Mähen die Zeit für eine gründliche Kontrolle genommen hat!
Update Juni 2021: Die Technik entwickelt sich weiter – Kitzrettung mit der Drohne
Inzwischen hat sich viel getan: Drohnen mit Wärmebildtechnik sind zwar mit mehreren tausend Euro immer noch sehr kostspielig, sie bieten aber zwei ganz wesentliche Vorteile: die Genauigkeit und die Schnelligkeit. Ein Drohne benötigt für das Absuchen von einem Hektar Wiese gerade einmal eine Minute, ein Jäger mit Hund etwa eine Stunde. Man erkennt schnell, wo das Hauptproblem liegt: bei größeren Wiesenflächen ist ein einzelner Jäger mit Hund völlig überfordert. Und der Bauer tippt derweil schon nervös auf das Gaspedal, weil er endlich mit dem Mähen anfangen will. Und es bringt auch nichts, die Wiese einfach gemütlich am Tag zuvor abzusuchen, denn dann führt die Geiß ihr Kitz möglicherweise über Nacht wieder in die Wiese hinein!
Der zweite Vorteil ist die Genauigkeit. Solange die Außentemperatur noch kühl ist, lässt sich jede Wärmequelle zu 100% orten. Ein Rehkitz zu übersehen, ist deshalb fast unmöglich. Steigt die Sonne am Morgen höher, wird es dann schon etwas schwieriger, weil sich nun auch Maulwurfshügel und Steine langsam erwärmen. Das heißt, es müssen mehr “fragliche” Punkte in Augenschein genommen werden, was Zeit kostet. Wird dagegen mit dem Hund oder mit bloßem Auge gesucht, ist schnell mal ein Wieseneck nicht kontrolliert oder das Kitz im hohen Gras übersehen.
Die Anschaffung einer Kitzrettungsdrohne lohnt sich also auf jeden Fall. Wenn die Jagdgenossenschaft und der Jagdpächter zusammenlegen, ist so ein Fluggerät auch gut bezahlbar. Das gute Gefühl, die Kitze gerettet zu haben, entschädigt für alles!