Wilderer: Vom Volkshelden zum heimtückischen Kriminellen
Obwohl Wilderer Straftäter sind und mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden können, wird mit diesem zweifelhaften „Berufszweig“ immer noch etwas Heldenhaftes in Verbindung gebracht. Um zu verstehen, woher dieser Mythos kommt, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen.
Ursprünglich hatten alle Germanen das freie Recht zu jagen. Bis hinein ins Mittelalter verfolgte die Landbevölkerung mit der Jagd zwei Ziele: Zum einen schützten die Bauern ihre Äcker vor Wildschäden und ihre Viehherden vor Bären und Wölfen. Zum anderen kam mit der Jagd das Fleisch auf den Tisch.
Eisenbereift: Die Wildererkappe wurde am Kopf festgenietet
Doch mit der zunehmenden Abhängigkeit der Bauern von ihren Landesherren, die ihnen militärischen Schutz boten, wurde dieses Recht immer weiter eingeschränkt – bis der Adel zuletzt die „Hohe Jagd“ für sich alleine beanspruchte. Der Landbevölkerung wurde nur zugebilligt, dem „Niederwild“ wie Hase und Fasan mit Schlingen, Fallen und Netzen nachzustellen. Das Jagdprivileg des Adels wurde erst mit der Revolution von 1848 wieder abgeschafft. Bis dahin wurden zur Durchsetzung des Anspruchs Forstbeamte eingesetzt, die für den Schutz, die Pflege sowie die Überwachung des Jagdreviers verantwortlich waren. Wer trotzdem dem Hochwild nachstellte, wurde zur Strafe und Abschreckung gedemütigt. So gab es die sogenannte Wildererkappe, eine eiserne Kopfbedeckung mit Hirschgeweih darauf, die unter schweren Schmerzen am Kopf des Verurteilten festgenietet wurde und die dieser dann für einen längeren Zeitraum tragen musste.
Im Jahr 1526 wurde in Bayern unerlaubtes „Wildbretpürschen“ erstmals den „Malefiz- oder Schwerverbrechen“ zugeordnet. Damit wurden auch die Strafen immer drakonischer. Herzog Albrecht V. kündigte 1567 im „Wildereimandat“ an, Wilderer zukünftig nicht wie bisher mit Gefängnis, sondern ab sofort mit dem Tode zu bestrafen. Selbst dabei wurde oftmals als Zeichen ihrer Straftat und gleichsam zur Abschreckung ein Geweih oder Fell über dem Galgen angebracht.
Volkshelden, die es den Großkopferten mal zeigten
Mit diesen Maßnahmen brachten die Landesherren die Bevölkerung gegen sich auf, die hilflos zuschauen mussten, wie Hirsche und Wildschweine ihr täglich Brot vom Acker fraßen. Deshalb verdienten sich diejenigen große Anerkennung, die ihre Flinte nicht ins Korn warfen und ihre Büchse nicht an den Haken hängten. Sie wurden zu Volkshelden stilisiert, die es den Großkopferten da oben zeigten. Der Wilddiebstahl wurde als ausgleichende Gerechtigkeit betrachtet und Wilderer galten nicht nur in Bayern als eine Art Gamsbart-Version von Robin Hood. Die bekanntesten von ihnen werden noch heute in Wildschützenliedern besungen.
Trotz aller verklärender Wildererromantik darf nicht verkannt werden, dass Wilderer oft auch skrupellose Kriminelle waren, denen ein Menschenleben wenig bedeutete. Davon zeugen die vielen aktenkundigen Fälle von ermordeten Förstern und Jagdaufsehern. Auf der anderen Seite blieb manchem Wilddieb keine andere Wahl, um sich und seine Familie vor dem Hungertod zu bewahren. Manch einer veräußerte das erlegte Wild auch gewinnbringend – so hatte der Spessarter Erzwilderer Johann Adam Hasenstab einen florierenden Wildbrethandel bis nach Frankfurt.
Die trügerische Wildererromantik der Alpen
In den Alpen entstand im 19. Jahrhundert eine regelrechte Wildererromantik, da – wie das Jagen – auch das Wildern im Hochgebirge nicht nur besonders gute Ortskenntnisse, sondern auch ein tiefes Naturverständnis, ein hohes Maß an Verwegenheit und nicht zuletzt bergsteigerische Fähigkeiten erforderte. Noch heute sind manche Gebirgswanderwege auf alte Jägerpfade zurückzuführen. Führen sie durchs Unterholz, können es auch ehemalige Schleichwege von Wilderern sein, denn besonders im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet waren Wilderer oft zugleich auch Schmuggler.
Im Zuge der Romantik Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Gebirgs-Wildschützen schließlich in Verbindung mit den Alpen-Motiven auch in Kunst und Literatur immer häufiger als „natürliche Helden“ dargestellt und verehrt. Diese tollkühnen Wildschützen – der Bekannteste ist sicher Georg „Girgl“ Jennerwein – jagten stets waidgerecht nach dem Ehrenkodex, keine Schlingen zu legen und keinem Rehkitz die Mutter wegzuschießen, weshalb sie in der Öffentlichkeit auch so beliebt waren.
Man darf sich aber nicht täuschen lassen: Der Großteil der Wilderer lauerte dem Wild heimtückisch mit Schlingen auf und scherte sich einen Dreck um das Leiden der Tiere. Oft quälte sich das gefangene Wild tagelang in den Drähten, mancher Fuchs biss sich sogar den Fuß ab, um zu entkommen.
Die “anständigen und braven” Männer des Wilddiebkommandos Oranienburg
Sogar für die Nationalsozialisten war Wilderer nicht gleich Wilderer: Ab Ende Mai 1940 wurden unter Oskar Dirlewanger im KZ Sachsenhausen rechtskräftig verurteilte Wilderer aus dem ganzen Reich zum „Wilddiebkommando Oranienburg“ zusammengestellt. Dabei wurden aber nur diejenigen berücksichtigt, die mit dem Gewehr gejagt hatten. Am 3. August 1944 erklärte Heinrich Himmler vor den Gauleitern in Posen: „Ich habe mir vom Führer die Genehmigung geben lassen, aus den Gefängnissen Deutschlands alle Wilderer, die Büchsenjäger sind, also die Kugelwilderer, keine Schlingenjäger, herauszuziehen. Das waren ungefähr 2000. Von diesen anständigen und braven Männern leben leider Gottes nur noch 400.“
Dass die Wilddiebe als „anständige und brave Männer“ bezeichnet werden, zeigt die in der Volksüberlieferung verwurzelte Hochachtung der mit Gewehr jagenden Wilderer im Gegensatz zu den „feigen“ Schlingenstellern.
Noch heute wird dieser Mythos gepflegt. Im Dokumentarfilm „Grüß Gott Gams – Felix und die Wildschützen der Alpen“ aus dem Jahr 2008 berichten die Wilderer Felix Laubhuber und Horst Eberhöfer über die Faszination der illegalen Jagd. Felix „Fex“ Laubhuber aus Schleching gilt als „König der Schwarzgeher“ und wurde bereits zweimal wegen Wilderei verurteilt. Trotzdem wird ihm mit diesem Fernsehfilm eine Plattform zur Selbstdarstellung gegeben.
Heimtückische Kriminelle ohne jagdlichen Ehrenkodex
Mit Romantik hat die heutige Wilderei nichts zu tun und von einem jagdlichen Ehrenkodex haben Jennerweins Erben noch nie etwas gehört. Im Bericht zur Polizeilichen Kriminalstatistik wurden für das Jahr 2016 in der Bundesrepublik 1.054 Fälle der Jagdwilderei erfasst. Dazu kommt noch eine enorme Dunkelziffer. Der Täter muss schon in flagranti mit frischer Beute oder einer Waffe angetroffen werden, um ihn zu überführen. Wilderei 2.0 geschieht meist nachts mit Scheinwerfer oder Nachtzielgerät und Schalldämpfer. Damit der Schussknall möglichst leise ist, werden in der Regel Kleinkaliberwaffen verwendet. Deren Wirkung ist auf weitere Entfernung jedoch so schwach, dass Rehe – die häufigsten Opfer – bei schlechten Treffern nicht gleich getötet werden. Aus Furcht, entdeckt zu werden, suchen die Heckenschützen aber nicht nach dem verletzten Tier, sondern überlassen es einfach seinem qualvollen Schicksal.
Hipster mit Vollbart und Armbrust
Auch vor archaischen Methoden wie Armbrust und Schlagfalle schrecken die Jagdfrevler nicht zurück. Immer wieder wird von Wildtieren berichtet, in denen Bogen- oder Armbrustpfeile stecken. Eckhard Fuhr, Kolumnist der Tageszeitung „Die Welt“, folgert aus dieser Entwicklung: “Die Sehnsucht nach dem Archaischen bricht sich, vor allem unter Männern, immer öfter Bahn… Ich bin davon überzeugt, dass die beiden Wilderer Bärte trugen und Hipster waren. Ja, wir erleben die Geburt eines Trends. Es würde mich nicht überraschen, wenn künftig Modemacher, Werbefritzen und Chefredakteure mit Vollbart und Armbrust durch den Wald schlichen. Und wenn ich das nächste Mal dort zum Essen eingeladen bin, dann heißt es bestimmt: selbst gewildert.”